MENSCHEN
Collier Schorr über Geschlecht und Identität
Die Fotografin und Künstlerin spricht darüber, wie sie mit ihrer Arbeit Denkanstöße geben und provozieren möchte.
Collier trägt ein Hemd von COS.
„Als ich anfing, sagten Art Directors zu meinem Agenten: „Wir lieben die Arbeit von Collier, aber wir haben Angst, dass sie alle Frauen wie Lesben aussehen lässt.“ Ein paar Jahre später begannen alle damit, Frauen in Blazer zu stecken und ihnen zu sagen, sie sollten jungenhaft aussehen,“ sagt Collier Schorr (sie/ihr) einige Tage nach ihrem Shooting für die „Liebe für alle“-Kampagne von COS anlässlich der Pride-Feierlichkeiten 2022.
Sie wurde 1963 in Queens geboren und wuchs auf Long Island und in New Jersey auf. Im Jahr 1981, mitten in der explosiven kulturellen Renaissance von Downtown New York, zog sie nach Manhattan. „Es war eine fantastische Zeit inmitten all der Energien des East Village,“ sagt Schorr. „Es gab Drag Queens, Performance-Künstler und Bands, oftmals war es schwer zu unterscheiden, wer wer ist.“
„Ich konnte es gar nicht abwarten, nach New York zu ziehen und mithilfe meiner Kleidung meine lesbische Identität auszudrücken. Das war auch eine Art Rebellion.“
Als Teenager lebte sie in den Vororten und begeisterte sich für Modefotografie und die darin dargestellte Repräsentation von Geschlechtern. Sie sammelte und sortierte Ausschnitte aus Magazinen und ordnete sie nach Themen, beispielsweise gab es „Mädchen, die ich mag“, „Kleidung, die ich mag“ und „Orte, die ich besuchen möchte“. „Ich war fasziniert von dem, was ich für die Darstellung homosexueller Kultur in Modewerbung hielt,“ sagt Schorr. „Auch wenn die Frauen nicht homosexuell waren, weckten sie jedoch ein homosexuelles Verlangen. Ich hatte wirklich das Gefühl, dass sie dort platziert wurden, um uns alle zu einem Tribe zusammenzurufen.“
Für ihre erste Ausstellung in der Kunstgalerie 303 Gallery, ihrer Arbeitsstelle, platzierte sie Kopien von Werbeanzeigen aus der Modebranche zwischen Plexiglasscheiben. Fotografie wurde erst in ihren Zwanzigern Teil ihrer Kunst, als sie nach Süddeutschland zog.
Ihre grenzüberschreitenden Werke zur Erforschung von Geschlecht und Identität bewegen sich auch weiterhin zwischen Dokumentation und Fiktion. Dabei findet sich die subjektive Natur der Repräsentation sowohl in ihren Kunstwerken als auch in Fotoshootings für führende Modemagazine.
Ein wiederkehrendes Thema ihrer Karrierelaufbahn ist die Darstellung von Androgynität, sei es in ihrer Serie von Fotos von Wrestlern an ihrer alten High School oder in Bildern ihrer deutschen Neffen, gekleidet als amerikanische Soldaten. „Schon in der High School hatte ich nur die Objektivierung von Frauen mitbekommen,“ erklärt sie.
Obwohl man ihre Fotografien in puncto soziale und kulturelle Etablierung als konfrontativ bezeichnen kann, sind sie doch immer sowohl intim und zart als auch intensiv und emotional. Dabei kommen die Körperlichkeit und Verletzlichkeit ihrer Subjekte stets zum Ausdruck.
Von ihrem Zuhause in Williamsburg aus spricht Collier über Sexualität, wie sie zu dem Punkt gekommen ist, an dem sie heute ist, und über einige der Hauptthemen, die sich wie ein roter Faden durch ihre Arbeit ziehen.
ÜBER DAS FINDEN IHRES TRIBES
„In der High School habe ich immer das Gefühl gehabt, ein „Ein-Personen-Tribe" zu sein. Ich konnte es kaum erwarten, in die Stadt zu ziehen. Die coolsten Kinder an meiner Schule waren diejenigen, die sich mit Audio- und Videoprojekten und solchen Sachen beschäftigten. Sie waren die Nerds, die Streber, aber auch diejenigen, die in den 70ern im CBGB herumhingen und die T-Shirts trugen. Ich habe mich immer daran zurückerinnert. Das waren im Wesentlichen diejenigen, die sich in Warhol’s Factory aufhielten – die Streber, die in die Stadt kamen und etwas entdeckten. Als ich 1981 in New York ankam, habe ich mich damit verbunden gefühlt. Mein Tribe war in der Kunstszene des East Village zu finden.“
ÜBER DIE DOWNTOWN-SZENE
„Als ich 1981 nach New York zog, war Downtown ein von Armut beherrschter Ort, infiziert mit Kriminalität und Drogen. Ich habe das in der Zeit, in der ich dort lebte, jedoch nicht wirklich realisiert. Es hat mir unglaublich viel Stärke gegeben, war aber auch sehr gefährlich. Im Jahr 1982 begann ich damit, mir im Pyramid Club im East Village Drag Shows und solche Dinge anzusehen. Danach folgten Orte wie Club 57 und Save the Robots. Die Szene im East Village war so inspirierend – hier trafen so viele Tribes aufeinander. Jemand wie Ann Magnuson im Club 75 verkörperte das – sie war Performance-Künstlerin, Clubbesitzerin, Sängerin in Bands und Schauspielerin in all diesen Filmen.“
ÜBER MODE ALS ERSTER IMPULS
„In den späten 70ern, als ich 16 Jahre alt war, habe ich die Zeitschrift Interview gelesen und bin danach mit dem Bus nach Downtown gefahren, um shoppen zu gehen. Ich habe mir Sachen angesehen, die das repräsentierten, was ich mir vorstellte. Mit den Kleidungsstücken wollte ich den Leuten in meiner Schule zeigen, dass ich eigentlich eine interessante Person bin. Sie waren zudem ein Kostüm und ich hätte niemals gedacht, dass ich der Idee hinter der Kleidung gerecht werden könnte. Wenn ich also ein Smokinghemd kaufte, dachte ich nicht, ich wäre ein Star. Ich dachte, wenn ich diese Kleidung anziehe, könnte ich ein Star sein.“
„Zur damaligen Zeit haben die meisten jungen homosexuellen Menschen sehr gelitten. Das galt nicht für mich; ich wollte Teil dieser Gruppe aus begehrenswerten, coolen und interessanten Menschen sein.“
ÜBER IHRE SEXUELLE IDENTITÄT
„Ich konnte es gar nicht abwarten, nach New York zu ziehen und mithilfe meiner Kleidung meine lesbische Identität auszudrücken. Es war auch eine Art Rebellion – eine Provokation, auch wenn sie erst einmal nur in meinem Kopf stattfand. Homosexuelle Menschen sagen, sie hätten es sich nicht ausgesucht, so zu sein, wie sie sind. Ich dagegen habe mich dafür entschieden. Früher haben die meisten jungen Homosexuellen sehr unter ihrer Sexualität gelitten. Das galt nicht für mich; ich wollte Teil dieser Gruppe aus begehrenswerten, coolen und interessanten Menschen sein.“
ÜBER MASKULINITÄT UND GENDERSTUDIES
„Ich habe ein Shooting mit dem Wrestling-Team an meiner alten Schule arrangiert. Als ich ankam war ich überwältigt, weil ich nicht allzu viel über Männer wusste und mich vorher noch nie an männerdominierten Orten wie diesem aufgehalten hatte. Und auf einmal war ich in diesem kleinen Raum mit all diesen halbnackten Männern, die aufeinander einschlugen. Ich habe mich irgendwie gleichzeitig homo- und heterosexuell gefühlt. Das waren diese Jungs, mit denen ich zu Schulzeiten nicht ausgegangen bin. In diesem Raum hat sich alles zusammengefügt. Hier fand ich Formen, die zwar stark, aber auch sehr verletzlich waren. Ich habe diese Männer einfach komplett fetischisiert. Viele homosexuelle Menschen lieben Wrestling, da es sich hier um ein wahnsinnig homosoziales Universum handelt. Diese Paare fügen sich gegenseitig Schmerzen zu, kümmern sich jedoch auch umeinander.
Für mein Buch „Jens F“ habe ich eines meiner männlichen Subjekte gebeten, wie diese Frau auf den „Helga“-Bildern von Andrew Wyeth zu posieren. Indem ich ihn diese sogenannten weiblichen Posen einnehmen ließ, konnte ich weitere Facetten der Maskulinität zum Vorschein bringen. Das war die anschaulichste Genderstudie überhaupt, zudem brachte sie etwas Befreiung in die Überlegung, wie Maskulinität aussehen könnte.“
ÜBER MODEFOTOGRAFIE
„Mode hat es mir ermöglicht, das zu tun, was ich mochte, aber natürlich mit dem Produktionsbudget von Jeff Wall. Fotografien von Jeff Wall sind immer künstlich aufgebaut, geplant, ausgeleuchtet und gestellt. Alles auf dem Bild ist so gewollt, es gibt ein ganzes Team von Menschen, die an der Zusammenstellung beteiligt sind. Darin sehe ich das, was schon immer meine Vorstellung von Mode war. Für mich ist Modefotografie eine Art Journalismus, bei dem ich auf den Seiten eines Magazins von Dingen berichten kann, die sich in der Welt ereignen, oder von historischen Ereignissen, oder ich kann intimere Themen wählen.“
ÜBER PRIDE UND DIE ARBEIT MIT COS
„Ich finde es toll, dass Pride jetzt so etwas wie eine Modesaison ist. Als ich jünger war, habe ich mich verletzlich und allein gefühlt, nach dem Motto „ihr und eure Leute geht in diese Ecke und macht, was auch immer ihr machen müsst.“ Jetzt habe ich das Gefühl, dass das Thema respektiert wird und zu einem mächtigen Instrument geworden ist. Und man kann an Projekten wie diesem von COS arbeiten. Mir hat das Shooting mit allen viel Spaß gemacht, ich dachte mir „wow, all diese großartigen und unterschiedlichen Menschen mit verschiedenen Pronomen und unterschiedlichen Kleidungsstilen.“ Das ist es, was ich an Mode und Fotografie schon immer so geliebt habe.“
Selbstporträt #1, American, 2008, Foto von Collier Schorr
SCHNELLFRAGERUNDE
Welches Kleidungsstück haben Sie zuletzt gekauft?
„Kann ich auch das letzte Kleidungsstück nehmen, das mit jemand gekauft hat? Das war ein Hockey-Trikot der kanadischen Olympiamannschaft.“
Welche Ausstellung hat Sie als letztes inspiriert?
„Adam Pendleton:Who Is Queen? im MoMA.“
Ihre schönste Erinnerung an New York?
„Ein Schulausflug zur Picasso-Ausstellung im MoMA. Dort habe ich Richard Gere gesehen, der die Gemälde betrachtet hat. Ich bin zu ihm hingegangen und habe gesagt: „Du bist Richard Gere,“ und er sagte: „Nein, bin ich nicht,“ und ich entgegnete: „Doch, bist du.“ Jahre später habe ich ihn wiedergesehen und zu ihm gesagt: „Du weißt, dass du es bist!““
Gibt es irgendwelche neuen Fotografinnen, die wir im Auge behalten sollten?
„Sharna Osborne aus Neuseeland, die jetzt in London lebt. Sie ist wirklich eine großartige Künstlerin und wir unterhalten uns viel.“
Was ist dein wertvollster Besitz?
„Da gibt es viele. Ich würde sagen, eine Collage von Richard Prince, die er für mich gemacht hat, als ich Liebeskummer wegen eines Mädchens hatte.“
Text von Andy Thomas
Fotos von Collier Schorr
Styling von Esther Matilla