MENSCHEN
Curtis Harding und der Gospel
Wir stellen vor: Sänger, Songwriter und Schauspieler Curtis Harding, dessen bewegte Kindheit in der Kirche seinen eklektischen Blick auf den Soul stark geprägt hat.
„Als wir so oft umzogen, wurde mir klar, dass dies keine normale Kindheit ist, aber ich kannte nichts anderes“, sagt Curtis Harding (er/ihm), der in Atlanta, Georgia, lebt.
Curtis wurde in Saginaw, Michigan, geboren und verbrachte seine frühen Jahre damit, mit seiner Gospel singenden Mutter und seiner musikalischen Familie, die regelmäßig die Kirche besuchte, durch die Vereinigten Staaten zu reisen. „Meine Eltern zogen umher und etablierten Kirchen in all den verschiedenen Städten der USA, weshalb wir nie lange an einem Ort blieben“, sagt er.
Curtis war gerade acht Jahre alt, als er anfing, in der Kirche Schlagzeug zu spielen, zu singen und oft mit seiner Familie auf Gospelveranstaltungen im ganzen Land aufzutreten. Erst als er 14 Jahre alt war ließ sich seine Familie in Atlanta nieder. Hier fand Curtis eine Stadt, die er sein Zuhause nennen konnte.
Er kam zu einem entscheidenden Zeitpunkt der Musikgeschichte Atlantas in der Stadt an, als der Südstaaten-Hip-Hop von OutKast und dem Dungeon Family Kollektiv geboren wurde. „Die ganze Sache steckte noch in den Kinderschuhen, es war eine großartige Zeit, in der Stadt zu sein, mitten im Geschehen“, erinnert er sich. Curtis war engagiert, wurde Mitglied der Hip-Hop-Gruppe Proceed und ging mit CeeLo Green auf Tour.
Während er mit Cole Alexander von Black Lips die Garage-Soul-Gruppe Night Sun gründete, begann Curtis, die Songs zu schreiben, die 2014 auf seinem Debüt-Soloalbum landen sollten. Soul Power war ein reichhaltiger musikalischer Mix, durchdrungen von der spirituellen Kraft des Gospels, der tiefen Intensität des Vintage-Souls und der rauen Dynamik des Garage-Rocks, den Curtis „Slop 'n' Soul“ nannte.
Obwohl Soul Power an die Musik der Vergangenheit anknüpfte, war Curtis nie ein Freund von Nostalgie. Für sein 2017 erschienenes Nachfolgealbum Face Your Fear schloss er sich mit dem experimentellen Hip-Hop-Produzenten Danger Mouse zusammen. Gemeinsam erschufen sie ein Alternative-Soul-Opus des 21. Jahrhunderts. „Es ist wichtig für mich, immer wieder neue Dinge auszuprobieren, weil ich mich mit einer einzigen Musikrichtung langweile“, sagt er.
Mit seiner Stimme und seinen Texten bringt er vielseitige Emotionen zum Ausdruck – von Schmerz bis Freude, von Stärke bis Zerbrechlichkeit. Mit If Words Were Flowers, einer Sammlung von Liedern über Liebe, Zusammengehörigkeit und Widerstandsfähigkeit, reagierte Curtis auf die Isolation und die Angst vor dem Lockdown. Diese Songs sind am kraftvollsten, wenn Curtis auf der Bühne steht und das tut, was er schon immer am Besten konnte. Wir treffen ihn ein paar Tage nach seiner Rückkehr von einer Europatournee und sprechen zunächst über seine Anfänge.
„Der Gospel war für mich nur der Anfang.“
GOSPEL ALS GRUNDLAGE
„Meine ersten mit der Musik verknüpften Erinnerungen sind die an meine Mutter, die in der Kirche auf der Bühne stand und mit dem Chor sang, außerdem spielte sie zu Hause Platten von Mahalia Jackson. Das war mein Einstieg in die Musik, der Gospel war sozusagen der Anfang für mich. Er war die Grundlage für alles, was ich später einmal machen würde.“
KURZLEBIGE KINDHEIT
„Ich denke, das Negative am Reisen von einem Ort zum anderen war, dass ich die Freunde, die ich in den verschiedenen Städten gefunden hatte, zurücklassen musste. Andererseits hat mich die Tatsache, dass ich ständig neue Freunde finden musste, offen für neue Erfahrungen gemacht. Jede Stadt hat ihre eigene Energie und ihren eigenen Vibe, also denke ich, dass das einen großen Einfluss darauf hat, was ich jetzt mit meiner Musik mache. Ich glaube, dass das Herumreisen mir geholfen hat, der Künstler zu werden, der ich heute bin.“
DIE ENTDECKUNG DES HIP-HOP
„In meiner Kindheit war Hip-Hop allgegenwärtig, aber erst als ich herausfand, wie sehr sich meine Schwester dafür begeisterte, fasste ich den Mut, mich selbst damit zu beschäftigen. Es ist immer gut, wenn man ältere Geschwister hat, die einem etwas zeigen können. Das war damals besonders wichtig, weil es noch kein Internet gab.“
TIEFER SÜDEN
„Eine Gruppe enger Freunde und ich hatten das Glück, als Promoter für LaFace Records rekrutiert zu werden, was uns die Türen zu einer Welt voller außergewöhnlich talentierter Künstler und Künstlerinnen aus Atlanta öffnete. Ihre Gegenwart hat mich selbst als junger Mensch sehr geprägt. Die Möglichkeit, mit diesen unglaublichen Persönlichkeiten zusammenzukommen und sich mit ihnen auszutauschen, war ein unschätzbarer Einfluss, der meine Ansichten und Ambitionen in einer Weise prägte, die ich mir nie hätte vorstellen können.“
SEINE STIMME FINDEN
„Es geht nur darum, man selbst zu sein. Heutzutage orientieren sich viele Leute, vor allem in der Rapbranche, an dem, was angesagt ist, und versuchen, auf dieser Welle mitzureiten. Als ich jung war, wurde man verprügelt, wenn man andere Menschen kopierte. Man musste sein eigenes Ding machen und seine eigene Persönlichkeit haben. Es war sehr wichtig, man selbst zu sein und sich selbst zu finden. Und das ist auch heute noch ein Teil von mir. Ich muss ein Individuum sein. Das ist immer das Ziel: zu lernen, wie man sich ausdrücken kann.“
„Ich muss ein Individuum sein. Das ist immer das Ziel: zu lernen, wie man sich ausdrücken kann.“
SLOP ‘N’ SOUL
„Der Name stammt eigentlich von Parliament-Funkadelic's Cosmic Slop und beschreibt einfach den Funk und den Fluss meiner Musik. Es kommt auch auf die Mischung an. Es ist nichts Erzwungenes, es ist einfach das, was ich gerne tue, weil ich so viele verschiedene Musikstile liebe. Was den Soul angeht, so denken die Leute bei diesem Wort oft, es ginge nur um die Musik. Bevor man überhaupt dazu kommt, die Musik zu erkunden, muss man wissen, dass der Soul lebt. Man kann Punk oder Dream Pop mögen und trotzdem Soul in sich tragen.“
STILIKONEN
„Sly Stone war für mich sehr wichtig, ebenso Funkadelic und David Bowie, vor allem weil er so viele verschiedene Phasen durchlaufen hat. Dann all die Jungs aus Atlanta wie OutKast und CeeLo, die auch heute noch Einfluss auf mich haben. Aber auch meine Mutter ist eine meiner Stilikonen. Und andere Menschen, die mir nahestanden, wie meine Onkel. Oft betrachten die Menschen berühmte Personen als Stilikonen, aber es können auch Menschen in ihrer Nachbarschaft und in unmittelbarer Nähe sein.“
ÜBER MUSIK HINAUS
„Ich habe auch mit Freunden Drehbücher geschrieben und ein bisschen geschauspielert. Ich habe in einer Netflix-Serie namens Hap and Leonard mitgespielt und in einem Film namens The Gateway, in dem ich einen Prediger spielte. Egal, ob es sich um Musik, Film oder Fotografie handelt, all diese Dinge beeinflussen sich gegenseitig. Man sollte sich keine Grenzen setzen.“
DER BLICK NACH VORNE
„Ich glaube, ich werde immer Musik machen. Ich weiß nicht, ob ich noch so oft auf Tournee gehen werde wie jetzt, aber das Musikmachen ist etwas, das nie vergehen wird. Ich möchte mehr mit anderen Künstlern und Künstlerinnen und auch mit großen Chören zusammenarbeiten. Ich interessiere mich sehr für das Komponieren von Musik und sehe meine Zukunft in Kollaborationen. Ich würde auch gerne Filme vertonen. Aber wer weiß? Vielleicht werde ich wie B.B. King, Gott hab' ihn selig, der mit 80 Jahren auf Tournee war.“
SCHNELLFRAGERUNDE
Wer ist Ihr Lieblings-Gospelkünstler/Ihre Lieblings-Gospelkünstlerin?
„Mahalia Jackson.“
Was war die letzte Platte, die Sie gekauft haben?
„Glorious Game von El Michels Affair und Black Thought.“
Was ist Ihr Lieblingsrestaurant in Atlanta?
„Mein Lieblingsrestaurant Chanterelle hat geschlossen, aber ich liebe ein auch ein bestimmtes Gericht bei Eats.“
Haben Sie ein Lieblingskleidungsstück?
„Ich liebe alte Vintage-T-Shirts.“
Wo würde Ihr perfektes Konzert stattfinden?
„Es kommt weniger darauf an, wo man ist, sondern vielmehr, wer dort ist. Wir spielen einfach vor dem größten Sammelsurium von Menschen, die alle eine gute Zeit haben. Musik ist die Weltsprache und bring uns alle zusammen.“
Text von Andy Thomas
Curtis Harding trägt Modelle aus der Herbst-/Winterkollektion 2023 von COS.
Fotos von Daniel Jackson.
Styling von Jane How.