MENSCHEN
Die Zukunft von modernem Tanz neu gedacht mit Cameron McMillan
In unserem Exklusivinterview spricht der zukunftsorientierte Tänzer und Choreograf über die Rolle seiner Kunstform im 21. Jahrhundert und darüber, wie er ihre Zukunft durch das Medium der Bewegung und durch das Einbringen von Technologie mitgestaltet.
„Für mich existiert alles auf einem Kontinuum, und wir werden uns immer wieder auf das Leben, die Kultur, den Tanz, die Politik, die Mode usw. berufen, wie sie heute existieren. Unsere individuelle und kollektive Vergangenheit beeinflusst uns sowohl heute als auch in Zukunft in vielerlei Hinsicht,“ erklärt der in Neuseeland geborene Choreograf, Tänzer und Bewegungsregisseur Cameron McMillan.
Cameron erhielt an der Australian Ballet School in Melbourne eine klassische Ausbildung und trat mit Kompanien aus dem gesamten Spektrum des Tanzes auf. Der Schnittpunkt zwischen klassischem und zeitgenössischem Tanz fasziniert ihn, seit er 2001 als Solotänzer des Englischen Nationalballetts nach London kam, bevor er sich der Londoner Kompanie Rambert für fünf prägende und experimentelle Jahre anschloss.
Seit er Rambert 2007 verließ, lotete der Pioniertänzer und Choreograf immer wieder die Grenzen seiner Kunstform aus und greift dabei sowohl auf die Disziplin seiner formalen Tanzausbildung als auch auf die konstante Suche nach einer neuen Sprache der Bewegung zurück. . Sein Werk untersucht die Spannung zwischen Gegenwart und Zukunft und fordert die Einschränkungen choreografischer Normen heraus. Er nutzt die Architektur des Tanzes, um auf die Komplexitäten des Lebens zu reagieren.
Während Cameron weiterhin Stücke für das Theater kreiert und aufführt, bringt er den Tanz auf dem Gebiet der choreografischen Bewegungsregie, oft auch in der Welt der Mode, voran. In Zusammenarbeit mit Fotografen, visuellen Künstlern und Direktoren hinterfragt er immerzu die Möglichkeiten seiner Kunstform im 21. Jahrhundert. Wir trafen uns mit Cameron, kurz nachdem sein neuestes Werk, Beneath Sky Snakes, in die engere Wahl des 2021 POOL International Dance Film Festival in Berlin kam.
„Von unserer Körpersprache bis hin zur tiefen Verbindung zwischen Tanz und Musik helfen uns die verschiedenen Formen des Tanzes, unsere Subkulturen zu kommunizieren, zu definieren und zu entwickeln.“
ZUR VERBINDUNG VON KLASSIK UND MODERNE
„Ich habe mich schon immer zu den zeitgenössischen Aspekten der Tanzform hingezogen gefühlt, sodass der Wechsel zum modernen Tanz ein ganz natürlicher Übergang war. Ich liebte es, an der Kreation neuer Werke beteiligt zu sein und hatte immer den Wunsch, Choreograf zu werden, also drehte sich viel darum, meine eigene Richtung und meinen Platz als Tänzer zu finden. Für lange Zeit habe ich mich gegen meine klassische Ausbildung gewehrt, um die Konditionierung, die mit dem Training einhergeht, zu überwinden, aber jetzt, mit etwas Abstand, bin ich in der Lage, sie zu erkennen und mit ihr auf eine Art und Weise zu arbeiten, die für meine heutige Sichtweise sinnvoll ist.“
ZUM ÜBERSCHREITEN DER GRENZEN DES TANZES
„Moderner Tanz ist in einem ständigen Wandel begriffen und entwickelt sich in viele verschiedene Richtungen. Es ist sowohl eine unglaubliche Inspiration als auch eine enorme Herausforderung, den Anschluss nicht zu verlieren, Plattformen für seine Arbeit zu finden und seiner Entwicklung als Künstler treu zu bleiben, denn so vieles scheint außerhalb der eigenen Kontrolle zu liegen. Das Ballett muss in einer schnelllebigen Welt gewissermaßen seine Relevanz beweisen. Tanz und visuelle Kunst sind immer mehr miteinander verflochten, und Politik, Nachhaltigkeit und Gleichheit bringt die Menschen dazu, Dinge ins Rollen zu bringen. Technologie und Innovation werden weiterhin einen enormen Einfluss darauf haben, wie unsere Arbeit entsteht und wie sie verbreitet wird.“
ZUR NEUINTERPRETATION DER VERGANGENHEIT FÜR DIE ZUKUNFT
„Ich habe Jahre damit verbracht, mein Denken und meine Herangehensweise an das Tanzen an eine modernere Sichtweise anzupassen. Die Herausforderung bestand also darin, all diese neuen Informationen und Fähigkeiten in einen Prozess einzubringen, der die spezifischen Fähigkeiten im Ballett nicht untergräbt. Entweder betrachte ich die Entwicklung meiner Tanzsprache im Ballett und im zeitgenössischen Tanz in ‚The Inheritance of Form‘, zeige eine Gegenüberstellung von Mythologie und einer futuristischen Vision von AI in ‚Irresponsible Gods‘ oder breche mit der Gender-Binarität im Ballett in ‚Un(i)Form Sonatas‘.“
ZUM TANZ IM DIGITALEN ZEITALTER
‘Soziale Medien haben einen erheblichen Einfluss auf die Art und Weise, wie wir Inhalte erstellen und konsumieren, und Tanz scheint für dieses Format besonders geeignet zu sein, aber ich denke, es kann auch ein zweischneidiges Schwert sein. Es gibt Künstlern die Möglichkeit, sich direkt einzubringen, andere an ihrer Arbeit teilhaben zu lassen und ihr Publikum nach eigenem Ermessen zu erweitern, aber das Ganze hat auch seine Grenzen. Algorithmischer Erfolg ist nicht immer ein Indikator für gute Arbeit, und die Auswirkungen der sozialen Medien auf die psychische Gesundheit sind problematisch.“
ZUR KULTUR UND SOZIALEM WANDEL
„Kultur spielte schon immer eine Hauptrolle auf dem Weg des sozialen Wandels. Kultur ist die Art und Weise, wie Gemeinschaften sich ausdrücken, kommunizieren und neue Ideen verarbeiten. Sie ist für das Wachstum der Gesellschaft unerlässlich. Die Rolle des Tanzes ändert sich dabei ständig, schon allein wie wir uns ‚bewegen‘ ist von grundlegender Bedeutung dafür, wie wir kommunizieren und uns ausdrücken. Von unserer Körpersprache und unseren alltäglichen Interaktionen bis hin zur tiefen Verbindung von Tanz und Musik, die verschiedenen Formen des Tanzes helfen uns dabei, unsere Subkulturen zu kommunizieren, zu definieren und zu entwickeln. Der Tanz hat noch viel Arbeit vor sich, aber in seinem Kern kann er die Energie, die Neugierde und die Stimmung des Augenblicks nutzen und ist von Natur aus kollaborativ.“
ZUR SCHAFFUNG VON WERKEN, DIE SICH MIT SOZIALEN FRAGEN BEFASSEN
„Wir sind als Künstler dafür verantwortlich, Fragen zu stellen, Ungleichheiten aufzudecken, unterrepräsentierten Stimmen eine Plattform zu bieten und die Vergangenheit neu zu interpretieren. Ein Großteil meiner Arbeit ist ein kontinuierlicher Prozess der choreografischen Praxis und der Entwicklung, etwas Stück für Stück aufzubauen, und die Reaktion auf den Kontext, in dem ich etwas schaffe. Mittlerweile sehe ich den roten Faden meiner Arbeit deutlicher und fühle mich mutiger in meinen Entscheidungen. So wurde beispielsweise Perimeter Interior mit einer Reihe von Systemen, Parametern und Anweisungen erstellt, welche die Tänzer und ich während des Prozesses miteinander ausarbeiten mussten, vom Kostümwechsel bis hin zum Einsatz spezifischer Karten und Regeln, ähnlich wie im Alltag.“
ZUM TANZEN IN DER GEMEINSCHAFT
„Ich glaube, dass es äußerst wichtig ist, dass Menschen das Erlebnis einer Aufführung auch außerhalb des Theaters zugänglich gemacht wird. Es erweitert den Kontext und die Erwartungen an die Kunstform, häufig durch direkte Interaktion mit Menschen in öffentlichen Plätzen, und ist entscheidend für Zielgruppen, die ansonsten keinen Zugang dazu hätten. Jeder hat das Recht auf Kunst und auf die Möglichkeit, sich damit auseinander zu setzen.“
ZUR CHOREOGRAFISCHEN BEWEGUNGSREGIE
„Ich interessiere mich sowohl für die körperliche Intention als auch für den emotionalen und intellektuellen Antrieb. Wenn sich die körperliche und die geistige Intelligenz im Zusammenspiel befinden, ergibt sich ein unglaublich vielseitiger, kreativer Spielplatz. Ich ermutige meine Tänzerinnen und Tänzer immer dazu, ihre eigenen Entscheidungen für den Moment und für das Tanzen im Kontext der Arbeit, die wir miteinander leisten, zu treffen. Letztendlich geht es um die Zusammenarbeit, und es ist wichtig für mich, dass die Künstler das Gefühl haben, darin unterstützt zu werden, einen Beitrag zu leisten und in dem Prozess anerkannt zu werden.“
ZUM MOTIVIEREN SEINER TÄNZER
„Ich glaube, es ist wichtig, Tänzern im Prozess Verantwortung zu geben, damit sie sich selbst in die Arbeit einbringen können, denn unter solchen Arbeitsbedingungen konnte ich mich als Tänzer selbst am besten entwickeln. Ich lerne, dass Intuition und Erfahrung eine große Rolle in meinem kreativen Prozess spielen, aber auch das Vertrauen auf meinen Instinkt im Moment. Ich versuche, mich mehr und mehr darauf zu verlassen. Ich versuche, so viele Informationen und Details wie möglich mit Bewegungen und durch gemeinsame generative Prozesse zu bieten, und die Tänzer bieten oft Lösungen und Ideen an. Was wir tun, ist vergänglich, aber Technologie hilft. Ich verwende jetzt Videobearbeitungssoftware im Prozess, um zu experimentieren und Strukturen zu verfeinern und den Prozess außerhalb des Studios fortzusetzen.“
ZU MUSIK UND TANZ
„Manchmal höre ich Musik, die ich sofort visualisiere und auf die ich reagieren möchte, und manchmal suche ich nach der geeigneten Klangwelt, um einer Tanzform einen Raum zu geben. Die richtige Musik zu finden ist stets ein wichtiger Teil des Prozesses für mich. Ich liebte die Herausforderung, mit der treibenden Komplexität von Steve Reich's Triple Quartet in ‚The Inheritance of Form‘ zu arbeiten und mit dem ungarischen Komponisten Richárd Reideraur die Gluck-Partitur für ‚Orpheus + Eurydice‘ neu zu interpretieren. J. S. Bach ist eine endlose Quelle genialer Musik und kann sich für meine Arbeit überwältigend anfühlen, während elektronische Musik die für mich einzig wahre zeitgenössiche Klangwelt zu sein scheint. Mit ihr fühle ich mich im Einklang mit der Gegenwart.“
ÜBER DIE VERBINDUNG ZUR JUGENDKULTUR
„Mein Werk ‚FutureDogs‘ entstand aus dem Wunsch heraus, eine Seite von mir einzubringen, mit der ich für eine ganze Weile nicht wirklich gearbeitet hatte. Ich wollte gegen meine bisherige Arbeit angehen, in der es mehr darum ging, meine Beziehung zur Form im Tanz zu verstehen, und stattdessen eine Verbindung zu einer anderen Seite von mir herstellen, die alles vergessen wollte. Mit einer extrem talentierten Gruppe junger Tänzer spielten wir mit der Spannung des digitalen Zeitalters, Gruppendynamik, Gender und Sexualität, Außenseiterstatus und dem Hedonismus der Jugend. Ich versuche, nicht zu diktieren, was die Arbeit aussagt, und stattdessen einen Raum für das Publikum zu schaffen, in dem es Dinge selbst interpretieren und erkennen kann.“
ZU STIL UND MODE
„Ich denke, Stil ist ein Gefühl dafür, wie man sich in der Welt präsentiert, aber auf eine Art und Weise, in der man sich wohlfühlt, authentisch und mühelos. Stil bedeutet eine ungezwungene Liebe zum Detail und ästhetisches Bewusstsein. Mode ist stets auf der Suche nach neuen Formen der visuellen Kommunikation, und ich mag die Herausforderung der Schnelligkeit, mit der sie sich verändert. Ich arbeite auch gerne mit kreativen Menschen außerhalb meines Fachbereichs zusammen, da dies neue Gestaltungsmöglichkeiten und Sichtweisen mit sich bringt, die meine Praxis erweitern.“
„Wir sind als Künstler dafür verantwortlich, Fragen zu stellen, Ungleichheiten aufzudecken, unterrepräsentierten Stimmen eine Plattform zu bieten und die Vergangenheit neu zu gestalten.“
SCHNELLFRAGERUNDE
Welcher Schauspieler würde Sie in der Verfilmung Ihres Lebens spielen?
„Timothée Chalamet oder Vincent Cassel.“
Wenn Sie eine Botschaft an Ihr jüngeres und älteres Ich übermitteln könnten, was würden sie sagen?
„Zu meinem jüngeren Ich: Vertraue auf deine Intuition. Zu meinem älteren: Irgendwelche Tipps?“
Das Letzte, was Sie gegoogelt haben...
„Secondhand-Möbel aus der Jahrhundertmitte.“
Text von Andy Thomas
Fotografie von Jack Davison
Styling von Clare Richardson
Cameron McMillan (@cameronmcmillan) trägt die H/W21 Kollection von COS.